Wolfgang Streeck, Direktor des Max Planck Instituts für
Gesellschaftsforschung in Köln, hat die sozialen und politischen Grundlagen
moderner Wirtschaftsordnungen erforscht. In seinem Buch analysiert der
Soziologieprofessor die aktuelle Krise des Euro.
"Die Hoffnung, dass man durch Reformen innerhalb
des Systems viel bewirken könnte, war vielleicht etwas
übertrieben…"
… sagt Wolfgang Streeck rückblickend über die von
ihm mitverfassten Reformprogramme zur Beschäftigungspolitik, die Ende der
90er-Jahre entstanden sind. In seinem neuen Buch geht der ehemalige Student der
Frankfurter Schule zurück noch weiter zurück zu den Wurzeln und knüpft an die
Theorien der 70er-Jahre zum Spätkapitalismus an.
Die
Krise des Spätkapitalismus in den 1970er-Jahren musste auch denen auffallen, die
kein Interesse daran hatten, dass der Spätkapitalismus zugrunde ging oder sich
selbst zugrunde richtete. Auch sie spürten die Spannungen, die von der
Krisentheorie mehr oder weniger zutreffend diagnostiziert worden waren und
reagierten auf sie. Von heute aus gesehen erscheinen diese Reaktionen als ein
mittelfristig (…) erfolgreiches Kaufen von Zeit mit Hilfe von Geld (…) zur
Entschärfung potenziell destabilisierender sozialer Konflikte, zunächst mittels
Inflation, dann durch Staatsverschuldung, dann durch Expansion der privaten
Kreditmärkte und schließlich - heute - durch Ankauf von Staats- und Bankschulden
durch die Zentralbanken.
Die Krise hatte also nicht, wie so oft
kolportiert, erst 2008 in den USA begonnen. Vielmehr habe die Kapitalseite schon
früh einseitig das Zwangsbündnis zwischen Kapitalismus und Demokratie im
Westeuropa der Nachkriegszeit aufgekündigt. Dieser Logik folgt auch das Konzept
des europäischen Binnenmarktes und der Einheitswährung der Europäischen Union,
dem Wolfgang Streeck mehrere spannende Kapitel widmet. Spätestens seit den
90er-Jahren werde die Europäische Union in ein nichtdemokratisches,
supranationales Regime umgebaut, um die Reste der nationalstaatlichen Demokratie
in den Mitgliedsstaaten zu überwinden. Wirtschafts- und finanzpolitische
Entscheidungen sind nicht primär Sache des direkt gewählten EU-Parlaments,
sondern werden über die EU-Kommission, den Europäischen Rat und die Europäische
Zentralbank gesteuert.
Wolfgang Streeck:
"Es scheint einen Imperativ zu geben: Die Forderungen des
Finanzsektors an die Staaten müssen absoluten Vorrang haben vor den Forderungen
der Bürger an die Staaten."
Den Preis dafür zahlten abhängig
Beschäftigte, Erwerbslose, Rentner und Kranke, wie Wolfgang Streek nicht nur
anhand des aktuellen Beispiels Griechenland zeigt. Vor mehr als zehn Jahren
folgte das Land den EU-Forderungen nach Steuersenkungen.
Wolfgang
Streeck:
"Als Griechenland in die Europäische
Währungsunion eintrat, 2001, haben die in demselben Jahr den Spitzensatz Ihrer
Unternehmenssteuern von 40 auf 20 Prozent runtergesetzt. Und haben das, was
ihnen da an Steuereinnahmen entgangen ist - man kann auch sagen: wo sie
verzichtet haben auf Steuereinnahmen - aus diesen billigen Krediten
ausgeglichen, die ihnen die Herrschaften von Goldman-Sachs frei ins Haus
geliefert haben. Da wurden dann Steuern abgebaut und dafür das Land verschuldet,
und heute besteht die Erwartung, dass die Rentner in Griechenland sich ihre
Renten kürzen lassen, damit die Halbierung der Spitzensätze der
Unternehmenssteuer nachträglich finanziert werden kann, indem die dafür
aufgenommenen Schulden sozusagen jetzt von den kleinen Leuten beglichen werden
müssen. Das ist alles ein kompletter Irrsinn, und ich glaube, mittlerweile wird
das auch den Leuten immer klarer."
Alan Greenspan, ehemaliger
Präsident der US-Zentralbank, dient Wolfgang Streeck als Kronzeuge: Politische
Beschlüsse seien durch die weltweite Marktwirtschaft ersetzt worden. Ausdruck
dessen sei unter anderem die enge Personalunion zwischen Markt und Staat, die
sich zum Beispiel in den Amtsträgern Mario Draghi, dem Präsidenten der
Europäischen Zentralbank sowie den zwischenzeitlichen Krisenverwaltern Mario
Monti in Italien und Lucasoukas Papademos in Griechenland Italien manifestiert:
Sie alle waren zuvor Top-Manager der US-Bank Goldman Sachs. Mit Polemik würzt
Wolfgang Streeck seine Ausführungen über die öffentliche Darstellung der
Europäischen Union.
Was der Nachrichten
verfolgende Zuschauer sieht, sind immer neue Inszenierungen von
Entscheidungskraft und Entscheidungsmacht, dargeboten von Virtuosen auf dem
Gebiet der vertrauensbildenden Maßnahmen und begleitet von einer Kakofonie von
"Experten" jeder Art, die lautstark wechselnde Patentrezepte mit immer kürzeren
Verfallsdaten anpreisen.
Der dabei immer wieder postulierten
Alternativlosigkeit der Politik mag Wolfgang Streeck nicht folgen. Er weist zu
Recht darauf hin, dass die Wirtschaft ein soziales Handlungssystem und
keineswegs ein "Naturgesetz" sei. Dem - Zitat - "frivolen Experiment" des Euro
erteilt er dabei eine Absage.
Ein Ausstieg aus
der europäischen Einheitswährung käme einem Einstieg in eine Politik der
Grenzziehung gegenüber der sogenannten "Globalisierung" gleich. Wer eine
"Globalisierung" ablehnt, die die Welt einem einheitlichen, Konvergenz
erzwingenden Marktgesetz unterwirft, kann nicht an einem Euro festhalten wollen,
der genau dies mit Europa tut.
Wolfgang Streeck nimmt sich in der
besten Tradition der Frankfurter Schule das Recht heraus, Kritik zu üben - ohne
selbst ein fertiges Patentrezept für eine Alternative vorzulegen. Denn die
Voraussetzungen, eine solche auf demokratischer Grundlage zu entwickeln, sei
zunächst einmal ein lautes und deutliches nein.
Wolfgang
Streeck:
"Ich glaube, dass das zurzeit die
einzige Kommunikationsmöglichkeit ist, die die Bevölkerungen gegenüber diesen
Eliten haben. Die müssen einfach sagen: Wir wollen das nicht mehr. Wenn Sie sich
da einen Schlips umbinden und gehen in die Geschäftsräume der Europäischen
Zentralbank und sagen: Ich habe aber jetzt eine Lösung dafür und möchte die
bitte Herrn Draghi vortragen - das können Sie vergessen, das brauchen Sie nicht
zu machen. Aber ich kann mich erinnern, als die Occupy-Bewegung in Frankfurt
ihre Demonstration machten, ein paar Leutchen waren das eigentlich nur, aber da
waren mindestens dreimal so viele Polizisten unterwegs wie Demonstranten. Und
der Schrecken darüber, dass Leute jetzt sagen - so, wir haben genug davon, der
saß ungeheuer tief. Und ich denke, davon brauchen wir
mehr."
Wolfgang Streeck bereichert seine Analyse mit empirischem
Material und prognostiziert einen weiteren Abbau des Sozialstaats in den
Mitgliedsstaaten der EU, ja, er warnt sogar vor der - Zitat - "Diktatur einer
kapitalistischen Marktwirtschaft". Der Soziologe hat eine wichtige
Verteidigungsschrift der Demokratie gegen den Kapitalismus vorgelegt - zwei
Gesellschaftsmodelle, die für den Wissenschaftler nicht miteinander vereinbar
sind.
Wolfgang Streeck
Gekaufte Zeit.
Die vertagte Krise des demokratischen
Kapitalismus, Suhrkamp Verlag, 271
Seiten, 24,95 Euro
ISBN:
978-3-518-58592-4